Die Automobilbranche steht an einem Wendepunkt. Geopolitische Spannungen, wirtschaftliche Unsicherheiten, regulatorische Veränderungen und rasanter technologischer Fortschritt bringen traditionelle After-Sales-Modelle an ihre Belastungsgrenzen. Für Hersteller (OEMs) stellt sich daher nicht mehr die Frage ob, sondern wie schnell sie sich anpassen müssen. Wer den Wandel aktiv gestaltet, bestimmt das Tempo der Branche – wer zögert, riskiert, abgehängt zu werden.
Ein Beispiel: Die wiederkehrenden Drohungen mit Importzöllen auf Fahrzeugteile verdeutlichen, wie anfällig etablierte Erlösquellen gegenüber geopolitischen Veränderungen sind. After-Sales neu zu denken ist kein Zukunftsthema mehr, sondern eine akute Notwendigkeit.
Zentrale Herausforderungen für das After-Sales-Geschäft
Instabilität ist heute keine Ausnahme, sondern der Normalzustand. Anhaltende Konflikte, steigende Inflation und Zölle stören Lieferketten und treiben die Kosten. Gleichzeitig verändern strengere Emissionsvorgaben und die zunehmende Verbreitung von Elektrofahrzeugen (EVs) das After-Sales-Geschäft grundlegend. EVs benötigen weniger Wartung – das schmälert das klassische Servicegeschäft erheblich.
Zudem schwächen neue Mobilitätsformen wie Mobility-as-a-Service (MaaS) die traditionellen Berührungspunkte zwischen OEMs und Endkunden. Digitale, flexible Modelle werden zur Voraussetzung.

Abbildung 1: Current Challenges for the Automotive After Sales
Mit der stärkeren Vernetzung der Fahrzeuge verschieben sich auch die Servicebedarfe: weg von Ölwechseln hin zu Batteriechecks, Software-Updates und Thermomanagement. Fernwartung und Over-the-Air-Updates reduzieren Werkstattbesuche drastisch. Gleichzeitig steigt der Druck durch Fachkräftemangel und wachsende Kundenerwartungen.
Die Auswirkungen sind messbar: Werkstattbesuche gehen um bis zu 30 % zurück, der Umsatz pro Fahrzeug bei EVs sinkt teilweise um bis zu 70 %. OEMs müssen ihr Geschäftsmodell anpassen, oder riskieren, eine zentrale Einnahmequelle zu verlieren.
Wandel als Chance
So ernst die Herausforderungen auch sind, sie eröffnen Spielräume für Innovation. Wer sie klug nutzt, kann gestärkt aus der Krise hervorgehen. Der Schlüssel liegt in der Abkehr vom tradierten Modell und der Entwicklung robuster, digitaler und kundenzentrierter Systeme.
Strategien für Resilienz und Wachstum
Resilienz aufbauen beginnt mit Investitionen in Menschen.
Wenn erfahrene Mitarbeitende in den Ruhestand gehen, müssen OEMs ihr Wissen bewahren und den Fokus auf die Weiterqualifizierung ihrer Teams legen.
Trainingsprogramme können dabei helfen, den sich wandelnden Anforderungen der Elektromobilität gerecht zu werden.
In Menschen investieren
Mit dem Ruhestand erfahrener Mitarbeiter droht Wissen verloren zu gehen. OEMs müssen rechtzeitig gegensteuern: durch gezielte Schulungen, insbesondere für die Anforderungen der Elektromobilität.
Kundenbeziehungen neu denken
After-Sales muss über den klassischen Endkunden hinausdenken: Flottenbetreiber, Versicherer und Mobilitätsplattformen benötigen skalierbare, datengestützte Lösungen. Mobile Serviceteams, individualisierte Wartungspakete und vernetzte Omnichannel-Plattformen können helfen, relevant zu bleiben.
Künstliche Intelligenz als Enabler
KI wird zum Schlüsselfaktor. Mit Predictive Analytics lassen sich Wartungsbedarfe frühzeitig erkennen und personalisiert ansprechen. KI-basierte Systeme optimieren die Flottenwartung, minimieren Ausfallzeiten und senken Kosten. Dabei sind Datenschutz und ethischer Umgang mit KI nicht optional, sondern Voraussetzung für Akzeptanz und Vertrauen.
Neue Erlösquellen erschließen
OEMs dürfen nicht länger ausschließlich auf Reparaturerlöse setzen. Abo-Modelle, gestaffelte Wartungspakete und datengestützte Upselling-Strategien schaffen stabile Einnahmen. Auch nachhaltigkeitsorientierte Services wie etwa Batterieanalytik oder „grüne“ Wartung helfen, regulatorisch wie strategisch am Ball zu bleiben.
Zudem liegt in den Fahrzeugdaten erhebliches ungenutztes Potenzial. OEMs können daraus wertvolle Insights für Flottenmanager oder Versicherungen generieren. Neue Modelle wie Vehicle-as-a-Service (VaaS) eröffnen zusätzliche Geschäftsfelder. Partnerschaften über Branchengrenzen hinweg können helfen, diese Angebote in die Kernstrategie zu integrieren.

Abbildung 2: The Shift in Automotive After Sales Revenue Streams
Digitalisierung als Wettbewerbsvorteil
Digitalisierung ist mehr als ein Compliance-Thema; sie wird zum strategischen Unterscheidungsmerkmal. Tools wie Remote-Diagnose oder App-Kommunikation schaffen neue Kontaktpunkte und verbessern die Kundenbindung. Wer digitale Services in ein ganzheitliches Ökosystem integriert, wird führen: durch KI-basierte Serviceberater, Echtzeit-Feedback und personalisierte Erlebnisse.
Eine resiliente, agile Lieferkette aufbauen
Widerstandsfähige Lieferketten sind keine Kür, sondern Pflicht. Die jüngsten globalen Disruptionen zeigen: After-Sales-Resilienz hängt entscheidend von der Agilität in Beschaffung und Logistik ab. Lokale Hubs, multisourcing-Strategien und dynamische Preismodelle helfen, die Versorgungssicherheit zu sichern. Digitale Werkzeuge für Lagerbestandsmanagement und Nachfrageprognosen verwandeln Schwachstellen in strategische Vorteile.
Vom Servicebereich zur strategischen Säule
After-Sales darf nicht länger als reine Serviceeinheit betrachtet werden, es muss zur tragenden Säule der Gesamtstrategie werden. Herausforderungen bestehen, doch sie eröffnen Gestaltungsspielraum. Wer bereit ist, in Menschen zu investieren, KI verantwortungsvoll einzusetzen, Partnerschaften zu stärken und digitale Ökosysteme aufzubauen, kann aus Disruption echte Differenzierung schaffen.

Benedikt Altrogge
Manager

Theresa Lindauer
Associate
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