Das Ausmaß des industriepolitischen Kurswechsels Europas ist kaum zu überschätzen. Diese neue Ausrichtung steht für einen Investitionsschub von über 800 Milliarden Euro bis 2030 – eine Transformation, die die Wertschöpfungsketten der Produktion grundlegend verändern wird. Für die Automobilbranche entsteht dadurch ein seltener strategischer Wendepunkt, an dem Verteidigungspolitik, Souveränität der Lieferketten und gesetzliche Vorgaben zur Dekarbonisierung zusammenkommen – und somit existenzielle Bedrohungen wie auch einmalige Chancen für OEMs und Zulieferer gleichermaßen schaffen.
Die neue europäische Industriestrategie: Dimension und Reichweite
Die EU verfolgt einen industrieübergreifenden und grenzüberschreitend koordinierten Ansatz, um die Fertigungskompetenzen Europas nachhaltig neu zu gestalten. Allein der Aktionsplan für Metalle und Stahl sowie das Programm „ReArm Europe“ werden bis 2029 Investitionen in nie dagewesenem Umfang von über 800 Milliarden Euro mobilisieren. Hierzu zählt unter anderem das neue Finanzierungsinstrument „Security and Action for Europe“ (SAFE) mit 150 Milliarden Euro an Darlehen für kritische Verteidigungsprojekte sowie die koordinierte Aktivierung der nationalen Ausweichklausel, die Mitgliedstaaten Verteidigungsausgaben von bis zu 1,5 % des BIP erlaubt. Diese massive Kapitalumverteilung wird die Produktionskapazitäten und Innovationsschwerpunkte der europäischen Volkswirtschaften grundlegend neu ausrichten – und eröffnet der Automobilbranche sowohl neue Wettbewerbsrisiken als auch strategische Chancen.
Die Automobilkrise
Die Automobilindustrie steht an einem kritischen Wendepunkt. Der Draghi-Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU (2024) weist ausdrücklich auf „Wettbewerbslücken sowohl bei Kosten als auch bei Technologie“ in der europäischen Automobilzulieferkette hin. Diese Erkenntnisse treffen auf eine Branche, die sich gleichzeitig drei massiven Umbrüchen stellen muss: Elektrifizierung, softwaredefinierte Fahrzeuge und veränderte globale Nachfragemuster. Besonders bedeutsam ist, dass europäische Automobilhersteller eine hochqualifizierte Belegschaft von rund fünf Millionen Menschen beschäftigen, deren Arbeit einen erheblichen Multiplikatoreffekt hat: Auf jede Arbeitsstelle in der Fahrzeugproduktion kommen drei weitere Arbeitsplätze in der direkten Lieferkette sowie drei bis fünf zusätzliche im weiteren wirtschaftlichen Umfeld. Dennoch gerät der Sektor zunehmend unter Druck – seit 2020 sind rund 86.000 Arbeitsplätze verloren gegangen, davon allein 52.000 in Deutschland

Chancen
Die Neuausrichtung der europäischen Industriestrategie eröffnet Automobilherstellern und Zulieferern drei zentrale strategische Handlungsfelder: Diversifikation, Regionalisierung und Dekarbonisierung.
1. Diversifikation in die Verteidigungsindustrie: Die 150-Milliarden-Euro-Chance
Das Programm „ReArm Europe“ erschließt unmittelbare angrenzende Marktchancen für Automobilakteure. Der Ausbau des Verteidigungssektors fokussiert sich auf sieben vorrangige Fähigkeitsbereiche, bei denen es signifikante Technologieüberschneidungen mit Automobilkompetenzen gibt – insbesondere bei Elektronik, Künstlicher Intelligenz und Hochleistungsmaterialien.
Unternehmen wie Rheinmetall und Continental haben diesen Weg bereits eingeschlagen und ein Memorandum of Understanding (MoU) unterzeichnet, um Automobilarbeiter für die Verteidigungsindustrie umzuschulen. Europlasmas Vorstoß, eine ehemalige Renault-Gießerei in eine Produktionsstätte für Mörsergranaten umzuwandeln, signalisiert den Beginn eines breiteren Trends zur Umnutzung von Fertigungsanlagen – vorausgesetzt, die Nachfrage nach Verteidigungsgütern bleibt bis mindestens Ende dieses Jahrzehnts hoch.
Automobilzulieferer sollten ihre Kompetenzen systematisch gegen die Bedarfe des Verteidigungssektors abgleichen, um Diversifikationsmöglichkeiten frühzeitig zu identifizieren, bevor der Wettbewerb intensiver wird. Besonders gut geeignet sind Unternehmen mit Expertise in Elektronik, Leichtbaumaterialien und autonomen Systemen.
Diese Diversifikation bietet mehrere strategische Vorteile:
Konjunkturunabhängige Einnahmequellen als Absicherung gegen die Volatilität des Automobilmarkts;
Zugang zu hochpreisigen, langfristig stabilen Verteidigungsverträgen;
Möglichkeit zur Bindung und Weiterqualifikation hochqualifizierter Mitarbeiter während des industriellen Wandels;
Potenzial zur Entwicklung von Dual-Use-Technologien.
2. Regionalisierung der Lieferketten: Von Europa, für Europa
Da die EU entschlossen daran arbeitet, strategische Autonomie in kritischen Lieferketten zu sichern, stehen Automobilhersteller sowohl vor einer Notwendigkeit als auch einer großen Chance, ihre Wertschöpfungsketten zu regionalisieren.
Bereits heute sind die europäischen Produktionsnetzwerke tief in den Binnenmarkt integriert: Rund 22 % der Wertschöpfung französischer Autos und 14 % deutscher Fahrzeuge stammen aus Vorleistungen aus anderen EU-Ländern.
Der europäische Drang nach mehr Materialautonomie schafft Gelegenheiten, durch vertikale Integration erneut Wettbewerbsvorteile zu sichern – eine Strategie, die die europäische Automobilindustrie in der Vergangenheit erfolgreich praktiziert hat. Allein für die Absicherung von Rohstoff-Lieferketten für Batterien stellt die EU-Kommission 1,8 Milliarden Euro bereit.
Darüber hinaus bietet die Regionalisierung auch die Möglichkeit zur emissionsärmeren Produktion: Stahl ist verantwortlich für rund 27 % der Emissionen von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren und 15 % bei batterieelektrischen Fahrzeugen. Der Emissionswert von Automobilstahl liegt derzeit bei über 2,0 Tonnen CO₂e pro Tonne – etwa 50 % höher als der europäische Branchendurchschnitt.
Für Automobilakteure ergeben sich zahlreiche Ansatzpunkte:
Strategische Investitionen in europäische Primärmaterialproduktion, insbesondere durch Nearshoring zur Steigerung der Preiswettbewerbsfähigkeit;
Aufbau geschlossener Recyclingkreisläufe für kritische Materialien;
Forschung und Entwicklung im Bereich Materialsubstitution;
Bildung branchenübergreifender Konsortien, um Nachfrage zu bündeln und europäische Produktionskapazitäten auf effiziente Größenordnungen zu skalieren.
Fazit
Eine historische strategische Gelegenheit eröffnet sich für die europäische Automobilbranche im Zuge der 800-Milliarden-Euro-Renaissance des Kontinents. Sie bietet einen Weg, die derzeitigen Marktstürme zu überstehen und langfristige Wettbewerbsvorteile zu sichern.
Doch um diese Chancen zu ergreifen, sind tiefgreifende Transformationen notwendig. Unternehmen müssen Hindernisse wie die Erfüllung sektorenspezifischer Anforderungen (z. B. Verteidigung vs. klassische Automobilproduktion), die Skalierung von Geschäftsmodellen und die gleichzeitige Stabilisierung der Organisation sowie die realistische Bewertung vorhandener Kompetenzen bewältigen. Besonders entscheidend ist die Bereitschaft zur internen Selbstkritik – nur durch die Überwindung von Beharrungstendenzen und tradiertem Denken können Krisen wirklich bewältigt werden.
Letztlich wird der Erfolg davon abhängen, ob Unternehmen in der Lage sind, zeitnah entschlossene Maßnahmen zu ergreifen. Denn die Führungsrollen in Europas industrieller Zukunft nach 2030 werden heute vergeben. Wer sich nicht anpasst, riskiert, in einer sich rasant wandelnden Landschaft an Bedeutung zu verlieren.

Stefan Cibulka-Rothauer
Manager

Ann-Kristin Gross
Associate Manager

Cristian-Marian Bololoi
Senior Associate